„Jetzt stell dich nicht so an“

Das Junge Staatstheater Karlsruhe zeigt ein halbdokumentarisches Stück über Selbstbilder von Jugendlichen

„In der Schule haben die Jungs uns Mädchen in Punkte verwandelt“, erzählt sie: „zehn Punkte gleich perfekt. Null Punkte gleich richtig hässlich. Ich hatte vier. Wegen der Pickel. Sonst wären es bestimmt mindestens sieben geworden, ein guter Mittelwert, unter fünf war schon hart.“ Und dann wird sie natürlich auch noch gehänselt, sogar von ihrer kleinen Schwester. „Pickelgesicht“, nennt sie sie. Ist selbst blond, schmal, mit einem „niedlichen Gesicht: Da stehen die Jungs drauf.“ Und fragen noch: „Die ist deine Schwester? Aber du bist doch viel schöner.“ Und zum Geburtstag hat sie ihrer großen Schwester „Clearasil“ geschenkt. Der Geburtstag war natürlich gelaufen..
Es ist nicht einfach, ein Jugendlicher zu sein. Nichts passt mehr, ständig gibt es Druck. Dann findet man sich zu hässlich, hat Pickel, komische Zehen, der Busen ist zu klein oder zu groß oder gar nicht vorhanden. Man hat noch nie geküsst, man weiß nicht, wie man sich schminken muss und steht dann „ratlos im Drogeriemarkt“. Und kauft sich dann zielsicher das Falsche: „hab einen knallroten Lippenstift gekauft und blauen Lidschatten, und Make-up, das garnicht zu meinem Hauttyp passt und zu Hause hab ich mich im Badezimmer eingesperrt, es sah schrecklich aus.“ Und dann die Rollenerwartungen. Jungs müssen cool sein, Mädchen hübsch, nett und lieb. Und die Kleidung: Mädchen ziehen Röcke an. Oder sie trauen sich nicht, wegen ihrer schiefen Beine. Oder sie verstecken sich unter Sackpullovern. Und dann verlieben sie sich in Jungs. Oder Mädchen. Und umgekehrt. Und die Eltern! Zerren an einem herum: „Jetzt stell dich nicht so an. Das ist nicht weiter schlimm. Jeder sieht mal so aus. Das ist ganz normal. Du siehst aus wie eine ganz normale junge Frau. Es kommt doch auf deine Ausstrahlung an. Schau mal ein bisschen freundlicher.“
Solche Sprüche kennt fast jeder. In einer Inszenierung eines „Recherchestücks“ mit dem Titel „Neben mir“ im Jungen Staatstheater waren auch sie zu hören. Um den Körper und die Selbstbilder ging es in diesem Stück für Jugendliche ab 13 Jahren, und vieles gelang bemerkenswert, schnell schlug der Spaß an den Sprüchen der Eltern in Ernst um, immer wieder wurde man dazu gebracht, über sich selbst nachzudenken. Vor allem durch die Einspielungen von zufälligen Befragungen Jugendlicher in Karlsruhe, die mehr oder weniger bereitwillig Auskunft über sich gaben, gewann das Stück oft einen halbdokumentarischen Charakter. Auch der Trick der Regiesseurin Hannah Biedermann, Männer die Mädchenrollen spielen, sich schminken und Röcke anziehen zu lassen, stieß weiteres Nachdenken an. Warum dürfen Männer sich nicht schminken? Und wenn sie Spaß an schönen Sachen haben: Sind sie dann gleich schwul? Coolness und der Wunsch, dazuzugehören, die eigene Persönlichkeit und der Gruppenzwang – hier tut sich viel Konfliktstoff auf.
Inszeniert als eine meist recht gelungene Mischung aus Spaß und Ernst, witzigen und nachdenklichen Szenen hatte die Inszenierung aber manchmal auch zu sehr Nachhilfeunterrichtcharakter. Zudem wurde eines der wichtigsten Themen, Essstörung und Magersucht, nicht viel mehr als angetippt. Wie überhaupt zu viel nur eben angesprochen wurde und nichts richtig vertieft. Schnell sprang man weiter zum nächsten Punkt, als hätte man einen „Problemplan“, den man abarbeiten müsste. Hier wäre weniger durchaus mehr gewesen.

Georg Patzer, Badisches Tagblatt, 4.12.12